• Rechtsgebiet:
  • Unfallversicherung
  • Versicherungsrecht

Tod eines Allergikers nach Verzehr allergener Lebensmittel - nusshaltige Schokolade - kann ein in der privaten Unfallversicherung gedeckter Versicherungsfall sein

BGH Urteil vom 23.10.2013 - IV ZR 98/12: Der Verzehr nusshaltiger Schokolade, in dessen Folge ein an einer schweren Nussallergie leidendes Kind verstirbt, stellt einen versicherten Unfall dar. Zur möglichen Mitwirkung einer außergewöhnlichen Nahrungsmittelallergie an den Unfallfolgen im Sinne von Nr. 3 GUB 99 (Nr. 3 AUB 2008)

16.11.2013

Am 23.10.2013 hat der u. a. für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ein in den informierten Kreisen mit großer Spannung erwartetes Urteil verkündet, das für das Recht der privaten Unfallversicherung von erheblicher Tragweite sein könnte. Der Senat hatte über die Berufung des Versicherers gegen ein Urteil des Oberlandesgerichts München – Senate Augsburg – zu befinden, das einen tragischen Unglücksfall zum Gegenstand hatte.


Am heiligen Abend des Jahres 2009 verstarb die zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alte Tochter der Klägerin an den Folgen einer allergischen Reaktion. Die Verstorbene litt an einer angeborenen schweren Entwicklungsstörung (Trisomie 18, Edwards Syndrom), ferner an Asthma und diversen Allergien, wobei die Allergie gegen Nüsse am stärksten ausgeprägt war. Sie erlitt zunächst eine starke Verschwellung der Atemwege und sodann einen tödlichen Kreislaufzusammenbruch. Sie hatte mehrere zur Dekoration des Weihnachtstisches verwendete Stücke möglicherweise nusshaltiger Schokolade gegessen.


Die Klägerin nahm den beklagten Versicherer auf Leistung aus einer für die Verstorbene abgeschlossenen Unfallversicherung in Anspruch. Der Versicherer lehnte die Leistung mit der Begründung ab, dass schon nach dem von der Klägerin dargelegten Geschehensablauf ein Anspruch nicht bestehe, da kein bedingungsgemäßer Unfall vorliege. Darüber hinaus machte der Versicherer geltend, dass selbst dann, wenn man in solchen Fällen ein Unfallereignis im Sinne der privaten Unfallversicherung annehmen müsste, ein eventueller Anspruch wegen der Mitwirkung bestehender gesundheitlicher Beeinträchtigungen nach den Versicherungsbedingungen um mindestens 75% zu kürzen sei.

Das Oberlandesgericht München hat mit Urteil vom 01. März 2012 - 14 U 2523⁄11 - beiden Einwendungen des Versicherers, eine klare Absage erteilt und den Versicherer zur ungekürzten Leistung verurteilt. Nach Auffassung des Berufungsgerichts war der versehentliche Verzehr von Nahrungsmitteln, die Spuren von Allergenen enthielten, ein bedingungsgemäßer Unfall. Eine Berücksichtigung der bei der verstorbenen Tochter der Klägerin bestehenden gesundheitlichen Beeinträchtigung scheitere daran, dass es sich hierbei weder um eine Krankheit noch um ein Gebrechen im Sinne der AUB gehandelt habe, so dass eine Kürzung der vereinbarten Versicherungsleistung unter dem Gesichtspunkt der Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen an der unfallbedingten Gesundheitsschädigung (Tod) nicht in Betracht zu ziehen sei.


Das maßgebliche Ereignis, das im vorliegenden Fall die erste Gesundheitsschädigung unmittelbar ausgelöst hatte, war das Aufeinandertreffen (nusshaltiger) Schokolade auf die Mundschleimhaut des Kindes. Diese wirkte von außen ein. Da die gesundheitsschädigende Einwirkung der Allergene auf den Körper des Kindes unfreiwillig und plötzlich, nämlich unerwartet innerhalb eines kurzen Zeitraums erfolgte, liegt, so der 14. Zivilsenat des Oberlandesgerichts München, nach der Definition des § 178 Abs. 2 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) im vorliegenden Fall ein Unfallgeschehen vor. Dem hat sich der IV. Zivilsenat unter kurzer Darlegung seiner Rechtsprechung zum Unfallbegriff (Senatsurteil vom 6. Juli 2011 - IV ZR 29/09 -, Rdnr. 12-14) mit überzeugender Begründung angeschlossen.


Nicht geteilt hat der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes die Auffassung des Oberlandesgerichts München, dass die allergische Reaktionsbereitschaft keine Krankheit und kein Gebrechen, mithin kein regelwidriger Körperzustand sei.

Der Senat:

„Zu Unrecht meint das Berufungsgericht, die Nahrungsmittelallergie des verunglückten Kindes sei weder Krankheit noch Gebrechen im Sinne der Klausel, weil ein Lebensmittelallergiker problemlos und uneingeschränkt leben könne und keiner ärztlichen Behandlung bedürfe, solange allergene Stoffe gemieden würden. Hierbei kann offenbleiben, ob die Nahrungsmittelallergie eine Krankheit im Sinne der Mitwirkungsklausel darstellt, denn jedenfalls hätte das Berufungsgericht auf der Grundlage seiner Feststellungen ein bedingungsgemäßes Gebrechen nicht verneinen dürfen.

Ein Gebrechen ist ein dauernder abnormer Gesundheitszustand, der eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen nicht mehr zulässt (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Juli 2009 IV ZR 216/07, Rn. 14 m.w.N.; OLG Braunschweig VersR 1995, 823, 824). Allerdings wird eine lediglich erhöhte Empfänglichkeit für Krankheiten infolge individueller Körperdisposition solange nicht als Gebrechen bewertet, wie sie noch als innerhalb der medizinischen Norm liegend angesehen werden kann (Senatsbeschluss vom 8. Juli 2009 aaO). Es ist nur dann gerechtfertigt, den Versicherer teilweise von der Leistungspflicht zu befreien oder seine Leistungspflicht dementsprechend einzuschränken, wenn eine außergewöhnliche, individuell geprägte Mitverursachung vorliegt.“


Der Bundesgerichtshof hat deshalb das Urteil des Oberlandesgerichts München aufgehoben und zur erneuten Verhandlung und Beweisaufnahme über den Mitwirkungsanteil der Lebensmittelallergie an der Gesundheitsschädigung zurück verwiesen. Damit ist die Entscheidung des Rechtsstreits zunächst auf die Ebene der medizinischen Sachverständigen verlagert. Diese haben die Frage zu untersuchen, wie das Verhältnis der Mitursachen Allergen und allergische Disposition gegeneinander abzuwägen ist, von denen jeweils keine hinweggedacht werden kann, ohne dass die anspruchsbegründende Gesundheitsbeschädigung entfiele.


Nach diesem Urteil ist davon auszugehen, dass allergische Reaktionen auf Lebensmittel die durch den Mund aufgenommen werden und zu dauernden gesundheitlichen Schäden oder gar, wie vorliegend zum Tode des Versicherten führen, stets Unfälle sind.

Die meisten Versicherer haben für die strukturähnlichen Fälle

  • der Aufnahme von Gift durch den Schlund,
  • Vergiftungen durch Nahrungsmittel,
  • Infektionen, auch wenn sie
  • durch Insektenstiche oder -bisse oder
  • durch sonstige geringfügige Haut- oder Schleimhautverletzungenverursacht wurden, durch die Krankheitserreger sofort oder später in den Körper gelangen

die teils schon bisher als Unfall gesehen worden waren, genau deshalb einen Ausschluss von dadurch hervorgerufenen Gesundheitsbeeinträchtigungen von der Unfallversicherung vorgesehen z. B.

  • Ziff. 5.2.4; 5.2.5 AUB 99 Musterbedingungen GDV
  • Ziff. 5.2.4, 5.2.4.1, 5.2.5 AUB 2010 Musterbedingungen GDV – vorgesehen.

Es wird wohl in Zukunft mit einem vergleichbaren Ausschluss für Gesundheitsschäden in Folge allergischer Reaktionen nach Verzehr allergener Lebensmittel zu rechnen sein.

Für alle Bestandsverträge gilt aber, dass gesundheitliche Folgen einer allergischen Reaktion nach Verzehr allergener Nahrungsmittel durchaus auch einen Anspruch auf Versicherungsleistung aus einer privaten Unfallversicherung auslösen können, wenn die übrigen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind.


Sollte also der Verdacht bestehen, dass eine allergische Reaktion eine dauernde Einschränkung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit oder gar den Tod einer versicherten Person zur Folge haben könnte, ist es in jedem Fall empfehlenswert, sich so früh als möglich durch einen Rechtsanwalt und Fachanwalt für Versicherungsrecht wegen möglicher Ansprüche beraten und bei der Vorbereitung und Geltendmachung eventueller Ansprüche unterstützen zu lassen.


Lassen Sie von Ihrem Anwalt, Rechtsanwalt oder Fachanwalt für Versicherungsrecht prüfen, ob im Falle einer Leistungsablehnung durch den Versicherer der Unfallbegriff richtig angewandt wurde.

VVG § 178 Leistung des Versicherers

(1) Bei der Unfallversicherung ist der Versicherer verpflichtet, bei einem Unfall der versicherten Person oder einem vertraglich dem Unfall gleichgestellten Ereignis die vereinbarten Leistungen zu erbringen.

 

(2) Ein Unfall liegt vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Die Unfreiwilligkeit wird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet.